Erdställe – Rätselhafte unterirdische Anlagen

Erdstall... ein alter und wenig bekannter Begriff. Das Wort „Stall“, das heute für gewöhnlich nur als Bezeichnung für Gebäude zur Tierhaltung verwendet wird, besaß ursprünglich eine allgemeinere Bedeutung im Sinne von „Stelle, Standort oder Stätte“.
Erdställe sind demzufolge Stätten bzw. Räume, die in den Erdboden gegraben oder sogar aus dem anstehenden Gestein gemeißelt worden sind. Menschen vergangener Zeiten schufen Erdställe, also unterirdische Anlagen aus Gängen und Kammern, in ganz unterschiedlicher Größe und Form, die uns heute viele Rätsel aufgeben.

Verbreitung

Die meisten Erdställe sind bisher im südöstlichen Bayern (Oberpfalz, Nieder- und Oberbayern), in den nordöstlichen Teilen Österreichs (Ober- und Niederösterreich, Steiermark) sowie im angrenzenden Tschechien (Südmähren) dokumentiert worden. Überdies existieren eine Reihe erdstallähnlicher Anlagen in weiteren europäischen Ländern, v. a. in Frankreich (Limousin, Bretagne) und Irland sowie vereinzelt auch in Schottland, Ungarn und Spanien. Die Mehrzahl der Erdställe findet man im ländlichen Raum. Häufig treten sie unter alten Bauernhöfen, manchmal unter Kirchen bzw. Friedhöfen, gelegentlich aber auch im Bereich von Burganlagen und auf freiem Feld zutage.

Bauweise

Erdställe unterscheiden sich in Größe und Gestalt erheblich voneinander. Angesichts der großen Variationsbreite ihrer Formgebung lassen sich kaum Aussagen machen, die auf alle Erdstallanlagen gleichermaßen zutreffen. Es gibt allerdings einige bauliche Merkmale, die mehr oder weniger häufig auftreten.

In der Regel sind Erdställe, speziellen Bergbautechniken und den Gesetzen der Statik folgend, mit Gangprofilen in Rund- oder Spitzbogenform aus dem anstehenden Gestein herausgearbeitet worden. Die Bearbeitungsspuren sind in vielen Anlagen noch gut erkennbar. Auf stabilisierende Abmauerungen oder Stützen haben die Erbauer größtenteils verzichtet.

In ihrem Verlauf können Erdstallgänge manchmal mehrfach die Richtung ändern, sich kreuzen, Stufenpassagen aufweisen, Rundgänge bilden oder sich zu Kammern erweitern. Dabei sind viele Gänge kaum mehr als schulterbreit und bieten somit nur einer Person gleichzeitig ausreichend Platz, sie zu passieren.

Zu den typischen Elementen der Erdstallarchitektur gehören horizontal oder vertikal angelegte Engstellen (sogenannte Schlupfe), die einzelne Gangabschnitte bzw. Räume oder sogar unterschiedliche Ebenen verbinden. Nicht selten weisen Schlupfe einen Durchmesser von weniger als 40 cm auf.

Oftmals findet man in den Erdstallwänden Nischen verschiedener Größe: Diejenigen unter ihnen, in denen sich theoretisch ein Mensch bequem niederlassen könnte, sind in der Vergangenheit gemeinhin als Sitznischen, kleinere Eintiefungen in den Wänden hingegen als Licht- oder Tastnischen interpretiert worden. Außerdem gibt es in manchen Erdstallgängen und -kammern entlang der Wände bankförmige Absätze.

Schließlich ist in einigen Erdstallanlagen ein senkrechter, zur Erdoberfläche führender Schacht anzutreffen. Diese Schächte, die beim Erdstallbau vermutlich zum Abtransport des ausgehobenen Bodenmaterials dienten, sind zumeist komplett verfüllt und untertage durch eine Trockenmauer verschlossen worden.

Datierung

Die wenigen bisher durchgeführten Altersbestimmungen von Fundobjekten aus Erdstallanlagen verweisen allesamt ins 10. bis 13. Jahrhundert, also ins Hochmittelalter. Doch die aus Erdställen geborgenen datierbaren Funde wie Holz, Holzkohle oder Keramikscherben stammen wahrscheinlich nicht aus der Bauzeit, sondern sind irgendwann während der Nutzungsphase der unterirdischen Gänge und Kammern hineingelangt. Sehr häufig wurden Fundgegenstände sogar erst, als Erdställe im Spätmittelalter oder in der frühen Neuzeit aufgegeben und zugeschüttet worden sind, zusammen mit anderem Verfüllmaterial eingebracht.

Historische Texte schweigen sich über die Erdstallanlagen weitgehend aus. Das ist allerdings nicht allzu verwunderlich, da die Bautätigkeit der breiten Bevölkerung – gleichgültig, ob sie ober- oder unterirdisch vonstattengegangen ist – in der Vergangenheit nur äußerst selten Spuren schriftlicher Art hinterlassen hat. Die Archäologie könnte möglicherweise Fragen klären, die von den schriftlichen Quellen unbeantwortet bleiben. Leider sind bislang nur in sehr wenigen Erdstallanlagen umfassende archäologische Untersuchungen durchgeführt worden.

Zweckbestimmung

Unser heutiger Wissensstand reicht nicht aus, um die ursprüngliche Funktion der Erdställe zu entschlüsseln.
Anders als bei vielen anderen unterirdischen Anlagen wie Brunnen, Verbindungsgängen, Kulträumen, Kellern oder Bergbaustollen lässt sich bei Erdställen aus ihrer Konstruktionsweise keine eindeutige Zweckbestimmung ableiten.

Trotz des Mangels an wissenschaftlich tragfähigen Ergebnissen fordern diese rätselhaften Anlagen doch viele Forscher zu Deutungsversuchen heraus. Die dabei im Laufe der Zeit entwickelten Thesen lassen sich generell zwei verschiedenen Grundannahmen zuordnen: Die einen gehen davon aus, dass Erdställe als Zweckbauten angelegt wurden, also beispielsweise als Zufluchtsstätten, Verstecke oder Vorratsräume dereinst einer profanen Nutzung dienten.

Andere Theorien nehmen hingegen an, dass diese unterirdischen Bauwerken als Kultstätten oder Sakralbauten im Zusammenhang mit vorchristlichen Ritualen oder aber hochmittelalterlichen Jenseitsvorstellungen geschaffen worden sind.
Solange jedoch keine ausreichenden archäologischen Befunde oder schriftliche Belege vorliegen, wird sich die Frage der Zweckbestimmung von Erdstallanlagen nicht beantworten lassen. Umso schmerzlicher ist die Tatsache, dass viele dieser unterirdischen Gangsysteme in den letzten Jahrzehnten bei Baumaßnahmen zerstört wurden und damit zahllose wichtige Informationen für immer verloren gegangen sind.